R. Gross: Die Beschleunigung der Berge

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Titel
Die Beschleunigung der Berge. Eine Umweltgeschichte des Wintertourismus in Vorarlberg / Österreich (1920–2010)


Autor(en)
Gross, Robert
Erschienen
Wien 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
361 S.
von
Jon Mathieu, Historisches Seminar, Universität Luzern

Beim Begriff der Beschleunigung denkt man als Historiker unwillkürlich an Reinhart Koselleck, der sich sein Leben lang immer wieder mit diesem Phänomen befasste. Sein Ausgangspunkt waren die Eisenbahngedichte der 1830er Jahre, welche die Geschwindigkeit der neuen Verkehrsmittel ins Zentrum stellten und von einer schubartigen gesellschaftlichen Erfahrung der Beschleunigung in Europa zeugten. Für die Alpen räsonierte ein englischer Autor 1882 anhand des eben eröffneten Gotthard-Tunnels ganz ähnlich über die Verkehrsentwicklung seit der Prähistorie: Fusspfade, Römerwege, Kutschenstrassen und jetzt die Eisenbahn. Die Abstände zwischen den Innovationen werde immer kürzer. Der Autor schloss aus der beschleunigten Abfolge auch, dass seine eigene Epoche im Grunde die einzige lebenswerte sei: «The past was too slow, and the future will be much too fast.»

Robert Gross hält sich bei seiner beeindruckenden Studie über den Wintertourismus in Vorarlberg (und weit darüber hinaus) an umwelthistorische Ansätze, die von einer «Great Acceleration» im Anthropozän handeln, ähnlich wie man früher im Anschluss an Karl Polanyi von einer «Great Transformation» sprach (S. 20 f.). Mitreflektiert wird auch Hartmut Rosas soziologische Habilitationsschrift zur Beschleunigung. Anders als bei Koselleck spielt bei Rosa die menschliche Erfahrung eine untergeordnete Rolle. Er will Beschleunigung als dominanten Prozess über und hinter der Globalisierung und Modernisierung etablieren (S. 44). Diese theorieorientierte Version passt gut zum Ansatz von Gross, der sich auf die Entwicklung von Technologie und Infrastruktur des modernen Wintertourismus konzentriert. Der zentrale Indikator ist die Förderkapazität der Skilifts und anderer Beförderungsanlagen, welche über die Zeit massiv zunahm und im Gebirge einen Rattenschwanz von ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen erzeugte. In einer derartigen Systematik hat man diese Verkettungen in der Literatur meines Wissens bisher nicht dargestellt.

Die wichtigsten Etappen der Technisierung des Skilaufens in Vorarlberg waren: der Schlepplift für Einzelpersonen 1937, mit T-Bügel erweitert für zwei Personen 1938, der Sessellift für Einzelpersonen 1947, der Doppelsessellift 1964, Dreiersessellift 1973, Vierersessellift um 1985 (S. 85, 95 f., 159, 197, 200). Gleichzeitig nahmen die Zahl und die Geschwindigkeit der mechanischen Aufstiegshilfen in der Region rasant zu. Das Wachstum der Förderkapazität hatte einschneidende Folgen für das gesamte Management des Betriebs: Plötzlich wurde das Warten unten am Lift zu einem Engpass; fast automatisch entstanden räumlich fixierte Skipisten, die sich vom umliegenden Gelände abhoben (das Wort «Skipiste» ist seit Mitte der 1950er Jahren im Umlauf); damit veränderte sich ihre Schneekonsistenz und das erforderliche Schneemanagement, die ökologischen Auswirkungen auf Bergwiesen und -weiden, die Unfallgefahr- und häufigkeit usw.

Um nur das Beschneiungsproblem zu nennen: Schon die Intensivierung der Flächennutzung sorgte dafür, das ein einziger Skiläufer pro Tag durchschnittlich eine Tonne Schnee gegen unten verschob. Dazu kamen die schneearmen Jahre, die mit der Klimaerwärmung seit dem späten 20. Jahrhundert deutlich zunahmen. 1973 wurde in Lech am Arlberg, dem Vorarlberg’schen Vorzeigeort, eine der ersten Beschneiungsanlagen Österreichs in Betrieb genommen. Die neue, kostenintensive Technologie schürte Hoffnungen, aber auch neue Ängste und ist trotz ihrer Verbreitung bis heute kontrovers geblieben (Kapitel 4.3).

Dank der Recherchearbeit von Robert Gross wissen wir, dass die künstliche Beschneiung in den Alpen ihren technologischen Ursprung in den Orangenhainen der USA hatte. Eine auf Bewässerungssysteme spezialisierte Firma in Massachusetts experimentierte Ende der 1940er Jahre mit der Erzeugung von künstlichen Wolken, welche die Orangenfarmen vor Frost schützen sollten. Dies erwies sich als impraktikabel, führte die Ingenieure aber auf eine andere Fährte und schliesslich zu einem Schneeerzeugungsapparat, der 1954 patentrechtlich geschützt wurde (S. 237). So wie in diesem Fall kamen die Inspirationen und manchmal auch die genauen Anleitungen für technische Innovationen fast regelmässig aus den Vereinigten Staaten. Sogar beim ersten Schlepplift, der 1934 von einem ETH-Ingenieur in Davos installiert wurde, scheinen die berühmten Zeitstudien zur Effizienzsteigerung von Frederick Winslow Taylor eine Rolle gespielt zu haben (S. 91).

Die Technik war zu keinem Zeitpunkt neutral, sondern hatte Folgen für Gesellschaft und Umwelt. Der Autor zeigt auf anschauliche Weise, wie die Skiläufer:innen an die neuen mechanischen Formen des Sports angepasst und gewissermassen kanalisiert werden mussten. Besonders wertvoll sind seine Ausführungen zur selten thematisierten Frage der Eigentumsordnung: Die kostenlose Nutzung von bergbäuerlichem Boden durch die Betreiber von Aufstiegshilfen respektive deren Kund:innen führte in der Nachkriegszeit zu Gerichtsfällen und neuen gesetzlichen Vorgaben. Der Oberste Gerichtshof übertrug das für das sommerliche Wandern gedachte «Wegefreihaltungsgesetz» auf die winterliche Intensivnutzung und schränkte damit das Eigentumsrecht der Bauern erheblich ein. Umstritten waren vor allem ihr Recht, Zäune zu errichten und Mist auszubreiten und später das Recht der Betreiber, Geländeveränderungen vorzunehmen. In Vorarlberg kam die Entscheidung mit dem «Sportgesetz» von 1968, das hauptsächlich zugunsten der Skigebietsbetreiber ausfiel (S. 167–171).

Als man kurz darauf schwere Raupenfahrzeuge zur Pistenpräparation einführte, wurde die saisonal differenzierte Flächennutzung erneut in Frage gestellt. Denn die potenziellen Effekte der mechanischen Pistenpräparation – Ernteverluste und Verarmung der Biodiversität – reichten weit über die Wintersaison hinaus. Aber auch hier setzten sich die Betreiber durch. 1972 räumte ihnen das novellierte Sportgesetz ausdrücklich das Recht ein, Skipisten so zu bearbeiten (S. 171–180). Das war im Jahr, als die «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome in der westlichen Welt auf eine verbreitete Stimmung traf, die Umweltproblematik wesentlich stärker und systematischer zu beachten als bisher. In Vorarlberg äusserte sich der ökologische Aufbruch unter anderem in einem neuen Landschaftsschutzgesetz. Dieses konnte die Wachstumseuphorie der regionalen Elite für einige Jahre bremsen und trug langfristig dazu bei, die Skigebiet-Regionen von agrarisch gebliebenen Regionen zu segregieren. Das Modell «Lech am Arlberg» verbreitete sich also nicht über das ganze Land (Kapitel 5).

Robert Gross versteht seine Untersuchung als eine Geschichte von «sozionaturalen Schauplätzen» mit besonderer Gewichtung der materiellen Dimensionen. Sie ermögliche einen neuen Blick auf den Wintertourismus, bilanziert er zu Recht: «Es ist eine Geschichte vom Versuch, die Berge zu beschleunigen, eine Geschichte der Konflikte, der Lernprozesse und der ökologischen Langzeitfolgen dieses Versuchs. Die wintertouristische Transformation einstmals verschlafener Bergdörfer ist auch eine Geschichte des Credos der Moderne, eine Geschichte der Effizienzsteigerung.» Dazu mussten Umwelteinflüsse abgepuffert und Touristen diszipliniert werden. Dabei gerieten die Akteure in eine Spirale steigender ökonomischer Verletzlichkeit, und die Interventionen in Ökosysteme erzeugten immer neue Nebeneffekte. Diese erzwangen wieder andere Investitionen, um die Skigebiete konkurrenzfähig zu halten (S. 311). Man ist gespannt, ob in dieser Alpensaga künftig auch nicht-materielle Faktoren eine grössere Rolle spielen könnten.

Zitierweise:
Mathieu, Jon: Rezension zu: Gross, Robert: Die Beschleunigung der Berge. Eine Umweltgeschichte des Wintertourismus in Vorarlberg / Österreich (1920–2010), Wien 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 402-404. Online: https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134.

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